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#BNWPurpose: "Suffizienz setzt einen tiefgreifenden Wertewandel in Unternehmen voraus"

In der Blog-Serie zum Purpose- und gemeinwohlorientierten Wirtschaften spricht der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft mit Expert:innen zu den Themen Gemeinwohlökonomie, Postwachstum & Suffizienz.

Purpose BNWPurpose Interview

Das Interview wurde mit Dr. Maike Gossen, von der TU Berlin, geführt. Maike Gossen war Inputgeberin bei der BNW-Veranstaltung "Wie bringe ich meine Kund:innen dazu weniger zu kaufen." Alle Interessierten finden hier den Veranstaltungsbericht.

Maike, du beschäftigst dich schon lange mit nachhaltigem Konsum und hast kürzlich zu suffzienzförderndem Marketing promoviert. Was bedeutet Suffizienz bzw. suffizienter Konsum? 

Nicht-nachhaltige Produktions- und Konsummuster und der daraus resultierende Überkonsum können nur wirksam verändert werden, wenn der Verbrauch von Gütern, Ressourcen und Energie drastisch reduziert wird. Hier setzt das Prinzip der Suffizienz an. Auf individueller Ebene umschließt Suffizienz mehrere Arten von Verhaltensweisen: die Reduktion des absoluten Verbrauchs, die Umstellung auf weniger ressourcenintensive Konsumstile, die Erhöhung der Langlebigkeit von Produkten sowie gemeinsame Nutzungspraktiken. Konkret kann suffizienzorientierter Konsum also bedeuten, freiwillig auf den Kauf neuer Produkte zu verzichten beziehungsweise – wenn Neukäufe nicht verhindert werden können – qualitativ hochwertige und langlebige Produkte zu wählen, die unter ökologischen und sozialverträglichen Bedingungen hergestellt werden. Zudem zählen Verhaltensweisen wie Pflegen, Reparieren, Tauschen, Leihen, Gebrauchtwarenkauf oder die Nutzung von Rücknahmesystemen zur Verlängerung der Lebensdauer von Produkten dazu. Diese Verhaltensänderungen setzen ein Überdenken der individuellen Bedürfnisse sowie eine Reflektion über den Zusammenhang zwischen materialistischem Konsum und Lebenszufriedenheit voraus. In diesem Zusammenhang ist mir der Hinweis auf die so genannten Konsumkorridore wichtig, die es allen Menschen erlauben, ein gutes Leben in einer Welt mit ökologischen und sozialen Grenzen zu führen. Diese Konsumkorridore sind durch die Festlegung eines Mindestverbrauchsniveaus zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse wie Nahrung oder Wohnraum und eines maximalen Konsumniveaus definiert, das negative soziale und ökologische Auswirkungen vermeidet, die die Chancen anderer gefährden würden ihren Mindestverbrauch zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund bedeutet suffizienzorientierter Konsum, mit weniger neuen materiellen Gütern als heute üblicherweise konsumiert werden zufrieden zu sein. Jedoch kann dem problematischen Überkonsum in Wohlstandsgesellschaften nicht nur durch individuelle Verhaltensänderungen begegnet werden, sondern erfordert auch neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die suffizienzorientierten Konsum begünstigen. Aus diesem Grund habe ich mich mit der Rolle von Unternehmen und des Marketings beschäftigt.

In deiner Doktorarbeit hast du unter anderem untersucht, wie Unternehmen ihre Kund:innen zu weniger Konsum zu bewegen. Welche Marketingmaßnahmen gibt es und welche sind aus deiner Sicht besonders erfolgreich?

Geeignete suffizienzfördernde Marketinginstrumente können dem konventionellen Marketing-Mix zugeteilt werden, der sich aus Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitiken zusammensetzt. Die von mir untersuchten Unternehmen haben hohe Anforderungen an das Produktdesign und sind bestrebt, möglichst recyclebare, langlebige, multifunktionale, reparierbare und zeitlose Produkte anzubieten. Das Angebot wird um Dienstleistungen ergänzt, die die Nutzungsdauer der Produkte verlängern, wie etwa Reparaturwerkstätten, Secondhand-Verkäufe, Leihangebote oder Pflege- und Reparaturanleitungen. Hinsichtlich der suffizienzfördernden Preispolitik konnte ich vor allem Premiumpreise, den Verzicht auf Rabattaktionen und lange Gewährleistungsgarantien feststellen. Unter den vertriebspolitischen Maßnahmen finden sich direkte Kundenkontakte und innovative Erlebnisangebote wie Kleidertauschpartys. Als Maßnahmen der Kommunikationspolitik werden Inhalte, die den Überkonsum in Frage stellen und zu kritischem Konsum anregen, sowie Bildungs- und Informationskampagnen zur Bewusstseinsbildung umgesetzt. Es ist erkennbar, dass die aufgeführten Aktivitäten in erster Linie Konsumpraktiken unterstützen, die auf eine Verlängerung der Produktlebensdauer abzielen. Für die Förderung von Konsumreduktion hat der herkömmliche Marketing-Mix meiner Ansicht nach aber auch Grenzen. So können Konsumentscheidungen, bei denen bewusst auf den Neukauf materieller Dinge verzichtet wird, nur bedingt durch Inhalte unterstützt werden, die sich auf die materiellen Eigenschaften eines physischen Produkts beziehen. Dies rückt die Bedeutung von Informations-, Bildungs- und Kommunikationsmaßnahmen für ein wirkungsvolles suffizienzförderndes Marketing in den Fokus, da diese Maßnahmen für die Bewusstseinsbildung und Bedürfnisreflektion besonders geeignet sind.

Im Rahmen der BNW Veranstaltung "Wie bringe ich meine Kund:innen dazu, weniger zu kaufen" hat Dr. Maike Gossen einen kurzen Input zum Thema Suffizienzmarketing gegeben. Den Input und die anschließende Diskussion gibt es in diesem Video.

Marketing wird von Unternehmen eingesetzt, um mehr zu verkaufen und die Profite zu steigern. Suffizienz möchte das Gegenteil erreichen. Schließen sich die beiden Begriffe nicht aus?

Es ist richtig, dass suffizienzförderndes Marketing auf den ersten Blick im Widerspruch zum Ziel der Kaufstimulation des konventionellen Marketings steht. Dieses paradoxe Verhältnis hat mich letztlich auch zu meiner Doktorarbeit motiviert. Ich wollte mehr darüber wissen, wie Unternehmen mit diesem Widerspruch umgehen, und den Dualismus von suffizienzförderndem Marketing besser verstehen. Die glaubwürdige und effektive Anwendung von suffizienzförderndem Marketing kann nur gelingen, wenn auch das dahinterstehende Geschäftsmodell konsequenterweise eine Suffizienzorientierung aufweist. Dies setzt einen tiefgreifenden Wertewandel in Unternehmen voraus. Zur Inspiration dienen so genannte Degrowth-Unternehmen, die bereits Wege der Wertschöpfung gehen, die unabhängig von Wachstum sind oder sich gänzlich von dem Prinzip der Gewinnmaximierung abwenden. Dies bedeutet für das Marketing, auf klassische Werbung zu verzichten und anstelle dessen die Interaktion mit Stakeholdern für ein besseres Verständnis über die tatsächlichen Bedürfnisse von Kund*innen zu intensivieren.

Es gibt nur sehr wenige Unternehmen, die sich für Suffizienz einsetzen, da es oft dem eigenen profitorientierten Geschäftsmodell widerspricht. Warum machen Unternehmen es trotzdem?

Den Unternehmen, mit denen ich Interviews geführt habe, ist der Widerspruch zwischen Suffizienzförderung und Unternehmenswachstum sehr bewusst, und sie entwickeln Strategien zum Umgang mit dieser Dualität, etwa indem sie ihr Produktangebot an Prinzipien wie Langlebigkeit, Zeitlosigkeit und Reparaturfähigkeit ausrichten oder ihr Geschäftsmodell diversifizieren und zusätzliche Dienstleistungen wie Verleih, Miete oder Gebrauchtkauf in ihr Angebotsportfolio aufnehmen. In den Fällen, in denen in Folge der suffizienzfördernden Kommunikation steigende Verkaufszahlen registriert werden, legitimieren die betreffenden Unternehmen dies damit, dass im Gegenzug Schrumpfungseffekte bei anderen nicht-nachhaltigen Unternehmen auftreten. Sie vertreten damit die Auffassung, dass der Konsum auf einem gleichbleibenden Niveau stagniert, jedoch mit höheren Marktanteilen von nachhaltigen Produkten. Die Motive dafür sind vielfältig. Die Ergebnisse meiner Studien zeigen, dass suffizienzförderndes Marketing sowohl aus pragmatischen als auch moralischen Gründen erfolgt. Zu den altruistischen Motiven zählt die normative Überzeugung, dass ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung und zur gesellschaftlichen Abkehr von der materialistischen Konsumgesellschaft geleistet werden kann. Aus strategischer Sicht können Unternehmen suffizienzförderndes Marketing nutzen, um ihre Reputation zu verbessern, Kundenbeziehungen zu stärken, neue Geschäftsfelder zu erschließen und den Umsatz zu steigern.

Um die Klimaziele zu erreichen, braucht es eine deutliche Reduktion im Verbrauch von Ressourcen, wofür suffizienzförderndes Marketing ein wichtiger Baustein sein kann. Was braucht es damit sich noch mehr Unternehmen dafür einsetzen?

Damit auf die wenigen Pioniere weitere Unternehmen folgen, benötigt es der Unterstützung der Politik, etwa in Form von wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die die Suffizienzförderung durch Unternehmen flankieren. Gute Beispiele in diesem Zusammenhang sind der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für Reparaturdienstleistungen in Schweden und der Reparatur-Index in Frankreich. Auf lokalpolitischer Ebene besteht darüber hinaus die Möglichkeit, Werbung im öffentlichen Raum für umweltschädliche Produkte wie von fossilen Energien angetriebene Fahrzeuge oder Auslandsflüge zu verbieten oder einzuschränken. Städte wie Amsterdam oder Grenoble machen davon bereits Gebrauch. Um suffizienzorientierten Konsum zur sozialen Norm in der Gesellschaft zu machen, sollten Unternehmen zudem Partnerschaften untereinander aber auch mit Akteuren aus Politik und Zivilgesellschaft eingehen. Konzertierte Aktionen, die von einer breiten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Basis getragen werden, können dem Prinzip der Suffizienz in der gegenwärtigen Konsumkultur eine größere Bedeutung verschaffen.

Dr. Maike Gossen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin und koordiniert das Kooperationsprojekt des Green Consumption Assistant, an dem auch die grüne Suchmaschine Ecosia beteiligt ist. Zuvor hat sie mehrere Jahre am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) zu nachhaltigem Konsum geforscht. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen darüber hinaus Themen wie Umweltbewusstsein, soziale Innovationen, Nachhaltigkeitsmarketing und Digitalisierung. In der BMBF-geförderten Nachwuchsforschungsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation” hat sie zu suffizienzförderndem Marketing promoviert.